Der Fremde Klang

Symposium mit Abendkonzerten 3. – 4. Oktober 2014 in Bonn

aus: China heute XXXIV 2019 Nr. 1

von: Mariana Münning

Am 3. und 4. Oktober 2014 kamen im Kammermusiksaal des Beethovenhauses in Bonn auf Einladung des Ostasien-Instituts e.V. (OAI) und der Bonner Gesellschaft für Chinastudien e.V. (BGCS) Wissenschaftler und Musiker aus Europa, China, Taiwan und sogar Neuseeland zusammen, um über die neuesten Entwicklungen der Erforschung des Austauschs zwischen Europa und China im Bereich der Musik und Musikwissenschaft zu diskutieren.

In ihrer Einführung erklärte die Vorsitzende des OAI und der BGCS, Dr. Therese GEULEN, was der Titel des Symposiums „Der Fremde Klang“ für die Veranstalter bedeutet. Er beschreibt das befremdliche Gefühl, mit unbekannten ästhetischen Normen konfrontiert zu werden. Gerade im Bereich der Musik kann eine ungewohnte Klangabfolge oder Klangkombination beim Zuhörer nicht nur Erstaunen, sondern vielleicht gar Entsetzen hervorrufen.

Wie Prof. François PICARD vom Institut de Recherche en Musicologie der Sorbonne im Eröffnungsvortrag erklärte, fand ein solches Aufeinandertreffen von musikalischen Normen im 17. Jahrhundert statt, als jesuitische Missionare und chinesische Konvertiten in China das Christentum auch mit musikalischen Mitteln verbreiten wollten. Zunächst geschah dies im Rahmen der Akkomodationsstrategie mit christlichen Texten in chinesischer Sprache zu chinesischer Musik, wie in der Musik der Jesuitenpater WU Li 吳歷 (1632-1718, siehe unten) und Joseph Marie Amiot (1718-1793). PICARDs Analyse des Tonumfangs zeigt, dass die Stücke der Musiktradition des Konfuzianismus folgten. Ein Jahrhundert zuvor wäre dies für den Gründer der China-Mission, Matteo Ricci (1552-1610), undenkbar gewesen, da er die chinesische Musik noch als abstoßend nicht-musikalisch empfand. Die Jesuiten wollten den christlichen Glauben gezielt den gebildeten Gelehrtenbeamten des Kaiserhofs nahebringen.

Lutheranische Missionare im 19. Jahrhundert kombinierten endlich europäische Kirchentonarten und die Pentatonik, während sie das christliche Vokabular im Chinesischen deutlich vereinfachten. Im 20. Jahrhundert wurden immer mehr Stücke komponiert, die auf beiden musikalischen Traditionen aufbauen. PICARD bemüht sich in seiner Forschung, eine neue musikwissenschaftliche Terminologie herauszuarbeiten, die den unterschiedlichen Konventionen und Traditionen der asiatischen Musik Rechnung trägt. Sein Standardwerk La musique chinoise wird demnächst auf Deutsch, herausgegeben vom Ostasien-Institut, erscheinen.

WU Li war auch Thema des folgenden Vortrags von Dr. HONG Li-Xing 洪力行 von der Katholischen Fu Jen Universität in Taiwan. Der Poet und Maler WU Li war einer der ersten chinesischen Literatenbeamten, der als Priester des Jesuitenordens ordiniert wurde. Er kann als Vorreiter der chinesischen Kirchenmusik betrachtet werden. Sein Werk der „himmlischen Musik“ Tianyue zhengyin pu 天樂正音譜 (wahrscheinlich 1710 komponiert) hat christlichen Inhalt. Zwar sind von diesem Werk keine Noten erhalten, aber der Text beinhaltet Anweisungen, zu welcher Melodie er gesungen werden soll. Es handelt sich nämlich um Suiten in der musikliterarischen Form des Qu 曲, im Deutschen manchmal „Ballade“ genannt. Diese gesungener Poesie, die bereits in der Yuan-Dynastie (1271-1368) einen Höhepunkt erlebte und in viele Unterkategorien unterteilt wird, hat einen festen Kanon an Melodien.

Wie mag das geklungen haben? Da beim Qu der Text in direktem Zusammenhang zur Musik steht, gab am Nachmittag HAN Chang-Yun 韓昌雲 (Theresa HAN), Präsidentin der Taipei Kunqu Society, einen Workshop zur Rekonstruktion des Tianyue zhengyin pu. Diese „Kun-Oper“ Kunqu 崑曲 ist ein heute noch lebendiger Qu-Stil. Anhand des Textes ist es also für erfahrene SängerInnen wie Theresa HAN möglich, eine passende Melodie und Ornamente zu singen. Da das Chinesische bekanntermaßen eine tonale Sprache ist, gibt es für jeden Ton einer Silbe des Textes bestimmte Intonationsfolgen. Aufgeschrieben werden die Noten traditionell dann in der Gongche- 工尺 Notation, eine Solmisationsschrift, in welcher jeder Note ein Schriftzeichen zugeordnet wird. Weitere Zeichen geben den Rhythmus oder auch die Artikulationsweise an. Unter Theresa HANs Leitung sang der ganze Saal.

In seinem Vortrag „Der Klang des Dao“ stellte der Salzburger Musikpädagoge Dr. Herbert HOPFGARTNER den Daoismus vor, der viel Einfluss auf die chinesische Musik ausübte. Auch heute noch sieht er in Musikstücken, in denen der Stille eine besondere Rolle zukommt, Elemente aus dem Daoismus oder auch aus dem daoistisch beeinflussten Zen-Buddhismus.

Den krönenden Abschluss des ersten Tages bildete dann das Konzert des Little Giant Chinese Chamber Orchestras, wozu die Komponistin Prof. CHAO Ching-Wen 趙菁文 der National Taiwan University eine ausführliche Einführung gab. Das aus klassischen chinesischen Instrumenten wie Flöte Di 笛, „Mundorgel“ Sheng 笙 oder auch der ursprünglich aus Zentralasien eingeführten Laute Pipa 琵琶 bestehende Orchester wurde durch einen Konzertflügel ergänzt und die Klänge mit projizierten Visualisierungen auf einer Leinwand sichtbar gemacht. Diese ungewöhnliche Kombination von Instrumenten war auch den Melodien anzuhören, welche die Besonderheiten sowohl der westlichen als auch der chinesischen Musikkultur erfrischend neu zum erklingen brachten. Durch die Architektur des Kammermusiksaals des Beethovenhauses, der eine große Nähe zwischen Publikum und Musikern zulässt, war die Konzentration und Leidenschaft des aus taiwanischen Studierenden bestehenden Orchesters und des Dirigenten Dr. CHEN Chih-Sheng 陳智昇 zu spüren. Ebenso erlaubte diese Nähe den Publikum, die in Deutschland selten gesehenen Instrumente eingehend zu bestaunen. Sowohl Stückauswahl als auch Stückabfolge, sowie die technischen Fertigkeiten der Musiker begeisterten das Bonner Publikum, welches die Musiker mit viel Applaus und nicht ohne eine Zugabe entließ.

Besonders hervorzuheben ist das Stück „Erinnerung“, welches auf den taiwanischen Sänger und Mondlaute-Spieler CHEN Da 陳達 zurückgeht und von der Komponistin CHAO erstmalig für ein Bühnenarrangement aufbereitet wurde. In einfachsten Verhältnissen lebend komponierte und rezitierte CHEN Da Zeit seines Lebens unzählige Lieder, ohne je Lesen, Schreiben oder gar das Notenlesen gelernt oder Musikunterricht erhalten zu haben. Wie auch Professor HUANG Chun-Zen 黃均人 der Taiwan Normal University am darauffolgenden Tag in seinem Vortrag erläuterte, war dieses und viele andere Volkslieder vom Musikethnologen SHIH Wei-Liang 史惟亮 (1925-77) während seiner Feldforschung aufgenommen worden. Nachdem SHIH in Wien Komposition studiert hatte, gründete er zusammen mit dem Steyler Pater und Initiator des „Fremden Klangs“, Alois OSTERWALDER, in Bonn die Arbeitsgesmeinschaft China-Europa, um den Kulturaustausch zwischen Ost und West zu vertiefen – das heutige das Ostasien-Institut (OAI). Dank dieser Arbeitsgemeinschaft konnte auf Taiwan die erste Musik-Bibliothek „Chinese Youth Music Library“ gegründet werden. 1967 wurde die Sammlung von Volksliedergut im „Folksong Fieldwork Movement“ begonnen, und SHIH Wei-Liang gründete 1968 ein Zentrum zur Erforschung chinesischer Musik in Bonn. In den Räumen des OAI bewahrte Alois OSTERWALDER jahrzehntelang SHIH Wei-Liangs Aufnahmen der Volksmusik auf – auf Taiwan waren Kopien davon schon längst zerstört. Momentan ist das OAI zusammen mit dem Digital Archive Center for Music an der National Taiwan Normal University unter der Leitung von HUANG Chun-Zen mit der Digitalisierung dieser seltenen Aufnahmen von längst verlorener Musik beschäftigt. Für sein Engagement erhielt OSTERWALDER den Kulturpreis der Fondation culturelle franco-taiwanaise.

Am zweiten Tag des Symposiums wurde der Austausch zwischen Deutschland und der chinesischen Welt im 20. Jahrhundert weiter beleuchtet. Zwei Vorträge behandelten den Gründungsvater der modernen Musikwissenschaft in China: WANG Guangqi 王光祈 (1891-1936), der 1920-36 in Deutschland lebte, in Berlin Musikwissenschaft studierte und als Chinesisch-Lektor in Bonn tätig war, wo er auch verstarb. Einerseis führte er Theorien und Methoden der sogenannten „Berliner Schule“ der Musikwissenschaft in China ein, andererseits brachte er auch dem deutschen Publikum die chinesische Musik näher. Wie Dr. GONG Hong-Yu 宫宏宇 vom Unitec Institute of Technology in Auckland, Neuseeland in seinem Vortrag erklärte, hoffte WANG Guangqi, dem chinesischen Volk mithilfe von Musik zu mehr Bildung zu verhelfen – gerade Anfang des 20. Jahrhunderts war dies vielen Intellektuellen ein wichtiges Anliegen, da sich das chinesische Kaiserreich als international nicht wettbewerbsfähig gezeigt hatte und die Angst bestand, vom Westen und Japan „abgehängt“ zu werden. Prof. ZHAO Chonghua 赵重华 der Sichuan-Musikhochschule in Chengdu erläuterte in einem weiteren Vortrag, dass WANG Guangqi die Rolle von Musik für die Moral des Volkes betonte, was ihn nicht nur dazu motivierte, umfassende Werke zur Musiktheorie zu verfassen, sondern ganz besonders auch, sich auf dem Bereich der Musikerziehung zu betätigen.

Die zum Symposium eingeladene Joanna Lee hatte sich entschieden, aufgrund der Proteste der Demokratie-Bewegung in Hongkong nicht anzureisen. Glücklicherweise erklärte sich Frank Kouwenhoven (CHIME – European Foundation For Chinese Music Research, Leiden) bereit, spontan einen Vortrag über den Komponisten TAN Dun 谭盾 zu halten. TAN Dun gehört zu den bekanntesten Komponisten des heutigen China, der nicht nur die Musik zu den bekannten Filmen Tiger and Dragon oder Hero, sowie für die Feierlichkeiten der Olympischen Spiele in Peking 2008 komponierte, sondern auch vor allem dafür bekannt ist, in seinen Werken Geräusche von Elementen wie Wasser oder Stein einzubeziehen.

Am Abend des 4. Oktober beendete dann das Solo-Konzert der Guqin-Spielerin HUANG Mei 黄梅, die bereits am Vorabend ein Stück mit dem Little Giant Chinese Chamber Orchestra gespielt hatte. Die Guqin 古琴 ist eine „Wölbbrettzither“ und das Instrument des konfuzianischen Gelehrten schlechthin. Sie ist relativ leise, durch die ausgezeichnete Akustik des Kammermusiksaals aber kamen ihre sanften Klänge wunderbar zur Geltung. Besonders an der Spieltechnik der Guqin ist, dass der Ton scheinbar im Kopf des Zuhörers weiterklingt, wenn eigentlich nur noch das Gleiten von HUANG Meis Fingern über die Saiten zu hören ist. Diese meditativen Klänge hinterließen beim Publikum einen tiefen Eindruck.

Die Vorträge werden vorraussichtlich in diesem Jahr als Konferenzband in englischer Sprache publiziert.